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Oberbürgermeister Stadt

Würdigung von 75 Jahren Grundgesetz nachgeholt

Der Stadtratsbeschluss wurde mit einer Veranstaltung in der Herderhalle erfüllt.

Aus der Kontroverse entstanden

Am 3. Juli 2024 haben ca. 110 Besucher die Gelegenheit wahrgenommen, einen Vortrag des bundesweit bekannten Philosophen, Medienwissenschaftlers und Publizisten Prof. em. Dr. Norbert Bolz mit anschließender Diskussion und musikalischem Rahmenprogramm zu erleben. Die vielen noch aus dem MDR („Riverboat“) bekannte Journalistin und Fernsehmoderatorin Katrin Huß führte durch den Abend.

In seiner Eröffnungsansprache ging Oberbürgermeister Tim Lochner vor der Kulisse der Pirna- und Deutschland-Fahne (aus dem Dienstzimmer) auf die Vorgeschichte ein, die zu dieser Veranstaltung geführt hatte. Was der Oberbürgermeister hier mit diplomatischen Worten umrissen hat, lässt sich auch pointierter zusammenfassen: Etwas mehr über die Hintergründe lesen Sie im Amtsblatt 14/2024, S. 3 f. Ein den Stadtratswahlkampf medial bestimmendes Ereignis ist dadurch ausgeblieben.

All jene, die sich statt reflektierter Würdigung ein weiteres Hofzeremoniell (im Stile Politischer Bildungsagenturen) gewünscht hätten, dürften enttäuscht worden sein. Ob überhaupt noch Versuche, bei stark „unterschiedlichen Auffassungen miteinander im Gespräch zu bleiben“ (Zitat Lochner), in Gegenden gelingen, wo inzwischen 82 bzw. 56 Prozent der Bevölkerung der Bundes- bzw. Landesregierung eher „kein Vertrauen“ entgegenbringen [vgl. Sachsen-Monitor 2024 (S. 30); Zusammenfassung im Video], konnte im Vorfeld schwer abgeschätzt werden. Der Vortragsredner dürfte diesen Balanceakt berücksichtigt haben; etliche charakteristische Merksätze (z. B. „Die Theologie des Weltuntergangs ist durch die Ökologie des Weltuntergangs ersetzt worden.“) blieben ungesagt.

Hochkomplexe Thematik – auf Klarheit bedachter Vortragsstil

Der rechtsphilosophisch eingeleitete, durchgehend frei gehaltene Vortrag nahm Bezug auf ein ewig destabilisierendes Konstruktionselement nichtreligiös begründeter Staatsmacht (Böckenförde-Dilemma) und schlug einen weiten Bogen über Exzesse im Regierungshandeln als furchtbare Konsequenz daraus. Insbesondere in Europa hätten zwei verheerende Weltkriege mit all ihren Schrecknissen auch fest verankert geglaubte Errungenschaften der (landläufig) Aufklärung genannten Phase einer merklichen Bezähmung der [vgl. bei Hobbes] Wolfsnatur des Menschen bis ins Mark erschüttert.

Auch um davon keine Wiederholungen – „Nie wieder!“ (im ursprünglichen Sinne!) – zuzulassen, sei 1949 das Grundgesetz als eine Art „Bibel“ mit unveräußerlichen Abwehrrechten bewusst gegen schrankenlose Staatsmacht konzipiert worden. Diese sich aus dem Naturrechtsquell der menschlichen Vernunft speisende „Zivilreligion“ stehe aktuell einem „Zangenangriff“ zweier im Kern mit der Ordnung des Grundgesetzes nicht kompatibler Konzepte gegenüber [vgl. Hirsi Ali 2023]: Als Zangenarme definiert Bolz 1. den politischen Islam sowie 2. einen neuartigen Umerziehungskult, dessen Schaden stiftende Wirkung von breiten Bevölkerungskreisen unterschätzt werde. Dazu wörtlich: „Was hier angegriffen wird, ist unsere Vorstellung von Normalität.“ Damit würde auch die im Grundgesetz angelegte freiheitliche demokratische Grundordnung (FDGO) aus den Angeln gehoben.

Der im Volk verbliebene „Mut zur Normalität“, der sich bspw. am zunehmenden Selbstentzug gegenüber den Narrativen medialer Indoktrination (angesprochen worden sind ARD und ZDF) offenbare, lässt den Redner gleichwohl mit fragiler Zuversicht auf Korrekturen hoffen. Für eine Sparte allerdings, die ihm seit Jahrzehnten geläufigen Geisteswissenschaften (mit all ihren entsprechend vorgeprägten Absolventen besonders in Politik und Medien), sieht der emeritierte Hochschullehrer kaum einen Silberstreif am Horizont.

Gegliedert und aufgelockert wurde dieser anspruchsvolle Vortragsabend durch musikalische Solo-Darbietungen. Greta Heimann am E-Piano und Vivien Rücker am Akkordeon haben sich den Applaus wohl auch durch ein erfrischendes Wesen verdient. Den beiden Absolventinnen Pirnaer Gymnasien hat Katrin Huß Einschätzungen entlocken können, die eine durchaus vorhandene Fähigkeit zur differenzierten Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene erwarten lässt. Der mit Berufungsverfahren vertraute langjährige Universitätsprofessor hat den angehenden Akademikerinnen seinerseits die ernüchternde Erfahrung anvertraut, „dass Leute ihre Jobs bekommen (an der Uni), bloß weil sie die ‘richtige‘ Politik vertreten“.

Keine Jubelfeier mit Sonntagsreden

Einen Eindruck, ob sich die gegenwärtige bundesrepublikanische Gesellschaft auf dem von Bolz skizzierten Pfad weiterbewegen oder eher wieder der hergebrachten Interpretation des Grundgesetzes nähern sollte, lieferte die von Katrin Huß kenntnisreich, einfühlsam und souverän moderierte Diskussion mit dem Publikum; diese hat dabei ihre eigenen Anschauungen und Erfahrungen (beim MDR aufgehört, „weil ich diese Medienbeeinflussung nicht mehr ausgehalten habe“) wohl allenfalls angedeutet. Der mehrheitliche Zuspruch des Publikums war dem Podium ohnehin gewiss. Aber auch Stimmen, die „tendenziöse“ (lies: allzu kritische) Bewertungen zum Zustand unserer Verfassungsordnung ausmachten, hatten ihren ungekürzten Auftritt und belebten den Diskurs in dialogbereiter, an Antwort interessierter Weise. Der Gast blieb auch zugespitzte Repliken nicht schuldig, bekannte sich (wie beim Konflikt der Großmächte um die Ukraine) aber auch zur Ratlosigkeit. Informationen sind jedenfalls nicht durch Haltungen ersetzt worden, was viele als einen Kontrapunkt eingeordnet haben mochten.

Dass ausnahmslos alle Besucher über das zum Mitsingen erbetene Schlusslied („Kein schöner Land“) hinaus im Saal verblieben sind, kann zudem als ermunterndes Zeichen registriert werden. Und der reichliche Applaus nach dem vom Oberbürgermeister mit Blumen abgestatteten Dank an Redner, Moderatorin und Künstlerinnen hat den Abend erkennbar versöhnlich beschlossen. Noch im Nachgang haben etliche die Gelegenheit zu angeregten Gesprächen genutzt.

Mit dieser Veranstaltung, die jedenfalls nicht als Selbstbestätigung der Privilegierten empfunden werden konnte, ist dem pluralistischen (d. h. im besten Sinne traditionellen) Markenkern des Grundgesetzes ein bemerkenswerter Dienst erwiesen worden – oder wie es dem Aufklärer Voltaire wohl gefallen hätte: es wurde der Dissens nicht überkleistert, sondern Sorge dafür getragen, dass er unbeschadet ausgesprochen und würdevoll ertragen werden kann. An diesem Abend zumindest hat sich der Wunsch des Stadtoberhauptes erfüllt, mit dem Tim Lochner seine Heimatstadt in der glücklichen Lage wissen will, „dass sich der Geist unseres Grundgesetzes an diesem Ort auch weiterhin frei zu entfalten vermag“. [so in seiner Vereidigungsansprache vom 25. März 2024].

Allen, die mit Engagement zum Zustandekommen dieses Abends in einer trotz Zeitdrucks ansprechenden Form beigetragen haben, gebührt ein ganz besonderes Dankeschön!

 

Timo Backofen
Fachgruppenleiter
Büro des Oberbürgermeisters